Heuvolk²

 

heuvolkIch werde brennen, haben sie gesagt.

Und tatsächlich brenne ich – nämlich für die Performance-Installation Das Heuvolk.

Entstanden ist das Stück, das viel mehr ist als ein Theaterstück, anlässlich der 19. Internationalen Schillertage 2017 des Mannheimer Nationaltheaters. Das dänisch-österreichische Künstlerkollektiv SIGNA, das sich dem Konzept des „Site Specific Theatre“ verschrieben hat, hat es entwickelt und in einem leerstehenden Gebäude der ehemaligen Benjamin Franklin Village und der dortigen Kapelle inszeniert.

Dort hat sich seit einigen Jahren eine Sekte eingenistet, so die Setzung des Stückes, die gemäß der Heilslehren ihres leider am 1. 1. 2017 zur Unzeit verstorbenen Propheten Jake Walcott dort darauf wartet, in ein paar Jahren von einem Raumschiff abgeholt und in eine bessere Welt errettet zu werde. An dieser Stelle kommen die ZuschauerInnen ins Spiel:

Immer eine Busladung voll pro Vorstellung wird aufs ehemalige Kasernengelände gekarrt und nimmt an den ebenfalls von Jake prophezeiten „Tagen des Zustroms“ teil, einer Art Tag der offenen Tür für Sinnsuchende.

Danach konfrontieren die 45 AkteurInnen – das Verhältnis BesucherInnen/AkteurInnen ist damit fast 1:1 – ihre Gäste sechs Stunden lang mit ihrer verqueren Glaubenswelt. Für mich als jahrzehntelangen Liverollenspieler ist volle Immersion nichts Neues, doch ich habe bisher keine Performance gesehen, die so leidenschaftlich und konsequent die 4. Wand eingerissen hat. Ich bin sogar wiedergekommen, ein zweites Mal, um an den Ritualen der Sekte teilzunehmen und die Inkarnationen der 12 Götter, an die sie glaubt, sehr intim kennenzulernen. Ich habe Cognac in den Bauchnabel der Fever Lady gespuckt, mit dem Gambler um seine derweil nackt tanzende Dienerin gespielt, nach philosophischen Gesprächen den Wolfskopf des Nightman getragen und mit dem „Religionslehrer“ der Sekte, Eduard, über Gut und Böse parliert, während dieser sich auszog und rituell wusch, um nur einige Highlights zu nennen.

Mit großer Konsequenz und Hingabe, mit fast manischer Spielfreude und Liebe zum Detail füllen die AkteurInnen diese Sekte mit Leben, machen ihre absurde Logik (am eigenen Leib) spürbar und laden die Gäste ein, für einen kurzen Ausschnitt ihres Lebens Teil davon zu werden. Ein winziger Kritikpunkt an dem atemberaubenden Erlebnis ist, dass die Lust am Spiel mit dem religiösen Wahn an einigen Stellen ein wenig zu slapstickhaft geriet, gerade im Kontrast zu den wahnhaften Abgründen, die ansonsten allerorten spürbar waren (ich sage nur Ruderclub und Strohpuppen).

Ansonsten war ich tief beeindruckt, dass das Spiel/die Spielwelt sich entwickelt – beim Wiederkommen wurde ich erkannt, und es hatten sich größere und kleinere Dinge verändert, die ganz klar eine Tendenz für die Sekte erkennen ließen und mit denen ich beim 2., für mich deutlich intensiveren Besuch wunderbar spielen konnte. Das Erweckungsritual, das die Abende jeweils abschloss, zeiget für mich ganz klar und spürbar, warum Marx recht hat und Religion Opium fürs Volk ist.

Ich habe vielleicht mit „Das Heuvolk“ nicht die Zukunft des Theaters gesehen. Aber für mich persönlich warʼs ganz nah dran.

Wann immer ihr SIGNA sehen könnt – zögert nicht, tut es. Die nächste Möglichkeit ist in Hamburg im November: Das halbe Leid ab Do, 16. 11. 2017, Werkhalle der Firma Heidenreich & Harbeck. Vergesst eure Kippen nicht.