Eigentlich darf niemand überrascht sein über das, was seit wenigen Wochen ans Tageslicht gekommen ist. Eigentlich hat sich das alles seit langem abgezeichnet. Eigentlich war das denen, die wach und aufmerksam leben, ziemlich klar, dass der Rechtsradikalismus eben keine Randnotiz gesellschaftlichen Lebens ist, sondern das friedliche, respektvolle, menschliche Miteinander in einer Gesellschaft gefährdet. Und doch hat sie gewirkt, die beruhigende Propaganda von interessierter Seite: ist alles nicht so schlimm. Denn dass Neonazis sich seit zwei Jahrzehnten in Ost und West in der Mitte der Gesellschaft einnisten konnten, war und ist ein Vorgang, den wir alle wahrnehmen konnten, und vor den doch der Schleier der Normalität gezogen wurde. Ist das alles ein Zufall? Natürlich nicht. Die Verschleierung ist durchaus gewollt. Und da gibt es mehrere Beteiligte:
Da sind zum einen die Täter, also diejenigen, die der Ideologie der Menschenfeindlichkeit, des Nationalismus, des Militarismus verfallen sind; Menschen, die sich über andere mit Gewalt erheben und ganz bewusst an die Verbrechen des Nationalismus anknüpfen und skrupellos hassen und morden.
Zum anderen sind da die Helfershelfer, also diejenigen, die in bestimmten Institutionen als Steigbügelhalter der Neonazis tätig sind. Und da muss der sog. Verfassungsschutz in den Focus unserer politischen Wachheit geraten. Um es vorweg zu sagen: solche Organe wie der sog. Verfassungsschutz oder der BND gehören abgeschafft – und nicht erst jetzt. Der Name „Verfassungsschutz“ ist schon eine Unverfrorenheit. Denn unsere Verfassung wird nicht durch Dunkelmänner und Nazikumpanen geschützt, sondern allein durch demokratisch gesinnte Bürgerinnen und Bürger, die sich am gesellschaftlichen Leben beteiligen, und durch die Gerichte. Mir ist nicht bekannt, dass der sog. Verfassungsschutz oder der BND in den vergangenen Jahrzehnten irgendetwas Vernünftiges zustande gebracht haben. Weitgehend von Altnazis gegründet und zunächst bestückt haben der sog. Verfassungsschutz und der BND regelmäßig einen Skandal nach dem anderen produziert. Willy Brandt haben sie zur Strecke gebracht, die Friedliche Revolution haben sie verpennt – und jetzt haben sie mit zu verantworten, dass über ein Jahrzehnt die Nazi-Terrorgruppe ihr Unwesen hat treiben können. Man schaue sich nur die Phalanx der Präsidenten an: viele mussten gehen, und einer sitzt immer noch im Knast, Holger Pfahls. Kein Wunder bei einer Institution, die die Lüge, den Betrug, die Niedertracht, das Austricksen, den Pakt mit dem Teufel zum Prinzip macht. Mit solchen Mitteln kann eine demokratische Verfassung zerstört, aber nicht geschützt werden.
Und dann sind da die Beschwichtiger und Brandstifter. Ich erinnere an das Machwerk von Tilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“: zynisch, überflüssig und eigentlich nicht der Rede wert. Gefährlich allerdings waren und sind die Beweggründe eines großen Verlages und verdächtig vieler Medien, ein solches Buch auf den Markt zu werfen und zu einem Großereignis zu pushen. Offensichtlich sollten menschenverachtende Pauschalurteile, eugenische und nationalistische Diktionen salonfähig gemacht werden – obwohl sie mit den Grundwerten unserer Verfassung, des christlichen Glaubens und mit einem respektvollen Umgang auch mit schwierigen Menschen nicht vereinbar sind. Vor allem sollten moralisch gebundene Grundpositionen als für Bereinigungsstrategien hinderlich diskreditiert werden. Also wurden im vergangenen Jahr diejenigen, die sich illusionslos und unverdrossen der Integrationsaufgabe stellen, über Wochen mit einer verächtlichen Überheblichkeit als „Gutmenschen“ verhöhnt – wobei ich es als einen Tiefpunkt in der politischen Debatte betrachte, wenn der Begriff „guter Mensch“ zum Schimpfwort geriert.
Was da also geschehen ist, ist kein Zufall. Es ist die Konsequenz aus Nachlässigkeit, Verschlafenheit und Kumpanei. Es ist die Verkennung der Tatsache, dass in Deutschland der nazistische Rechtsextremismus wirklich gefährlich ist. Nie hat es im politischen Bereich eine in sich zusammenhängende Debatte über Nazi-Terror seit 1990 gegeben, obwohl zum Beispiel die Wochenzeitung „DIE ZEIT“ schon immer auf die hohe Anzahl von Opfern des Nazi-Terrors hingewiesen hat und die latente Akzeptanz von rechtsextremistischen Positionen wie Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit in weiten Kreisen der Bevölkerung bekannt war. Jetzt heißt es: aufzuwachen. Es ist schließlich Advent. Jetzt heißt es, die Nazi-Kumpanei eines Mannes wie dem thüringischen sog. Verfassungsschutzpräsidenten Dr. Helmut Roewer klar als solche zu benennen und aufzuarbeiten. Jetzt heißt es, dort, wo Nazis auftreten, ihnen entschlossen entgegenzutreten, so wie wir das heute auch tun, und alle Angst abzulegen. Jetzt gilt es, die zu unterstützen, die in Ortschaften leben, in denen Nazis gar nicht mehr auffallen. Und jetzt heißt es auch, hier in Sachsen Schluss zu machen mit der Verfolgung derer, die sich dem Naziterror mutig entgegenstellen. Das, was sich die sächsische Landesregierung seit Februar 2011 erlaubt hat, ist ein Skandal. Und wenn jetzt die CDU Sachsen ein NPD-Verbot fordert, dann muss sie wegen der Polizeiaktionen gegen Nazi-Gegner mindestens drei Bußgebete sprechen.
Wir sollten nie vergessen: der Naziterror im Dritten Reich wurde ermöglicht durch das Bürgertum, auch durch die Bildungselite Deutschlands. Wenn das stimmt, dann müssen sich heute die Bürgerinnen und Bürger und vor allem die Bildungselite aktiv am Kampf gegen den Rechtextremismus beteiligen. Aber wo sind sie, auch hier in Leipzig? Wo sind die Universitätsangehörigen?
Zum Schluss: Natürlich ist das NPD-Verbot wichtig, unerlässlich und vor allem überfällig. Aber wir sollten nicht meinen, dass damit die Nazi-Ideologie weg ist. Darum ist jeden Tag neu eine gesellschaftliche Anstrengung nötig, damit Menschen sich aktiv einsetzen für den sozialen und demokratischen Rechtsstaat, damit Menschen nicht dem Antisemitismus oder anderer Menschenfeindlichkeit anheimfallen. Das hat viel mit dem sozialen Gefüge in unserer Gesellschaft zu tun und auch mit den Werten, die wir an unsere Kinder weitergeben.
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