Die Signifikanz der Vorhaut …

… oder: Warum ich doch noch meinen Senf zum Beschneidungsstreit abgebe

ImageZuerst wollte ich ja nichts dazu sagen, weil ich der Auffassung war und bin: Die paar Quadratzentimeter Haut sind Pippifax.

Doch dann sah ich gestern die unsägliche Diskussion zum Thema Beschneidung bei Menschen bei Maischberger, von selbiger Dame gewohnt hilflos geführt, und möchte nun doch einiges geraderücken, weil ich gestern beinahe meinen schönen Fernseher ausgeworfen habe.

Einige Bemerkungen vorweg:

  1. Ich bin kein Antisemit. Ich habe nichts gegen Muslime. Ich bin im Gegenteil toleranter Verfechter einer offenen Gesellschaft. Dieser Artikel soll werben für selbstentschiedene Religionsausübung. Diejenigen unter meinen Lesern, die mich kennen, wissen das; die anderen mögen es mir glauben.
  2. Ich spreche im Folgenden nicht von medizinisch indizierter Zirkumzision – wenn etwas aufgrund gesundheitlicher Probleme angeraten ist, sollte man es tun und basta. Aber das ist geschenkt und darf getrost als gegeben vorausgesetzt werden.
  3. Unsere baden-württembergische Integrationsministerin Bilkay Öney gehört zu der Koalition, die ich hier mit gewählt habe. Diese Personalie bedaure ich ausdrücklich.

So, nun zur Sache:

Das Kölner Landgericht hat mit seinem Urteil vom Juni diesen Jahres die Beschneidung als das definiert, was sie nun einmal ist: Körperverletzung, nur dann rechtlich unbedenklich, wenn sie von einem mündigen Individuum in freier Entscheidung gewollt wird. Da hilft auch der gestern von einem türkischstämmigen, die Beschneidung praktizierenden und befürwortenden Urologen gebetsmühlenartig wiederholte Hinweis darauf, das sei juristisch jede OP, nichts – denn OPs finden in der Regel mit Zustimmung des Patienten statt oder sind, wenn diese nicht eingeholt werden kann (wegen Bewusstlosigkeit usw.) IMMER medizinisch erforderlich. Niemand operiert in Deutschland zum Spaß (außer Schönheitschirurgen, über die ich an anderer Stelle ranten werde).

Dagegen argumentieren die Vertreter des Brauches, Beschneidung diene „dem Wohl des Kindes“ und Männer könnten ohne Vorhaut genau so gut leben wie mit ihr. Hier wird eine breite wissenschaftliche Debatte ignoriert, die die Bedenkenlosigkeit stark in Frage stellt, mit der vor allem in den USA Männer aus „hygienischen“ Gründen als Säuglinge beschnitten werden.

Beschnittene Männer berichten in Psychotherapien darüber, so, der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer, unter dem Gefühl zu leiden, es sei ihnen ohne ihr Einverständnis etwas weggenommen worden.

Die „hygienischen“ Rechtfertigungen sind durchsichtige Vorwände. Sie sollen einen Brauch legitimieren, der sehr alt ist und sicher seine Berechtigung hat, wenn man als Stamm durch die Wüste zieht und verhindern will, dass sich Sand und Keime in den bei Wasserknappheit schwer zu reinigenden  Bereichen unter der Vorhaut sammeln, der aber im 21. Jahrhundert als generell zu vollziehender Akt einfach hygienisch-medizinisch sinnfrei ist.

In Wirklichkeit geht es in den USA wie so oft um ein sexualneurotisches Phänomen: Routine infant circumcision (RIC) – routinemäßige Neugeborenenbeschneidung – nennt sich die Praxis, die Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, um die in der prüden viktorianischen Gesellschaft verpönte Masturbation zu erschweren. Auch in Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika – also den Regionen, in denen die viktorianische Prüderie überschwappte – war beziehungsweise ist RIC verbreitet, doch nirgends war ihr Siegeszug so uneingeschränkt wie im Land der unbeschränkten Möglichkeiten, wo in den siebziger Jahren mehr als 90% der weißen Bevölkerung beschnitten waren.

Die Entfernung der Vorhaut von Säuglingen ist aber im Wortsinne einschneidender als die von Erwachsenen oder älteren Kindern. Da Vorhaut und Eichel bei nahezu allen Neugeborenen fest verwachsen sind, ähnlich wie Fingernägel mit dem Nagelbett, müssen die beiden Strukturen zunächst einmal auseinandergerissen werden. Danach wird – ich zitiere erneut Schmidbauer – je nach Methode die Vorhaut längs abgeklemmt und eingeschnitten, mit einem Beschneidungsinstrument rundum für mehrere Minuten gequetscht und schließlich mit einem Skalpell amputiert.

Diese OP dauert bis zu zwanzig Minuten. Obwohl medizinische Studien nachgewiesen haben, dass die Neugeborenen dabei extreme Schmerzen erleiden, ist eine adäquate Narkotisierung auch heute noch eher die Ausnahme. Ethisch besonders bedenklich wird RIC zudem dadurch, dass es sich um einen medizinisch unnötigen, kosmetischen Eingriff an einem nicht zustimmungsfähigen Patienten handelt.

Dass manche Opfer dieser Praxis – wie gestern Dr. Dieter Graumann, Vorsitzender des Zentralrats der deutschen Juden – die Beschneidung retrospektiv als sexuelle Bereicherung und hygienische Notwendigkeit propagieren, ist für mich eine Art sexuelles Stockholm-Syndrom, Identifikation mit dem Angreifer, die sich bei vielen Traumatisierten beobachten lässt.

Kurzum: Es handelt sich um einen Eingriff in das grundlegende Persönlichkeitsrecht auf körperliche Unversehrtheit. Dieses aber wird zusammen mit dem Recht auf Leben und dem Recht auf Freiheit der Person in Art. 2 Abs. 2 GG garantiert und ist aus meiner Sicht für einen demokratisch denkenden Deutschen nicht verhandelbar.

Mir ist klar, dass die Religionsfreiheit ebenfalls ein hohes Gut ist, aber wo es um reine Tradition, um Kultus, geht, scheint mir deutlich, welches Recht höher zu bewerten ist.

5 Kommentare zu „Die Signifikanz der Vorhaut …

  1. Ich habe schon so viel zu dem Thema geschrieben. Immerhin bin ich jüdischen Glaubens, jedoch sehr weltlich orientiert und auch beschnitten. Ich selbst habe nie das Gefühl gehabt, dass mir etwas weggenommen wurde. Optisch finde ich es persönlich subjektiv tatsächlich schöner und beim Sex hat es auch Vorteile. Dass es bei der Selbstbefriedigung gestört hat, habe ich nicht gemerkt. ich bitte bei deinen ganzen Gedankengängen zu bedenken, dass das Beschneiden im Judentum am achten Tag quasi die religiöse Zugehörigkeit zu Gott besiegelt.

    Es wirkt nun etwas *merkwürdig*, wenn gerade Deutschland nun damit quasi dem Judentum verbietet, seinen Glauben auszuführen. Wir deutschen Juden sind sehr patriotisch, aber meist auch sehr weltlich. Die Verbrechen des dritten Reiches haben die meisten von uns längst dem Land vergeben, aber wir vergessen sie nicht. Daher gewinnt das Ganze einen gewissen faden Beigeschmack. Ich selbst werde Vater eines Sohnes im Januar und wenn es in Deutschland nicht möglich sein sollte, werde ich dafür eben nach Holland fahren,

    Das Ganze hat auch den Hintergrund bei mir, dass die Religion nach der Mutter weitergegeben wird in unserem Glauben. Da unser Sohn bireligiös aufwachsen wird und mit 14 selbst entscheiden soll, welchen Glauben er annimmt und ob überhaupt, möchte ich Ihm nicht zumuten, sich erst dann beschneiden zu lassen. Letztendlich will ich Chancengleichheit für die Religionswahl.

    Und man darf nicht vergessen, woran sich das Ganze entzündet hat. An der medizinischen Stümperei eines Einzelnen. Diese ist sicher zweifelsohne Körperverletzung wie jede medizinische Stümperei.

    Oder war das Ganze gar durch die weiter grassierende Angst vor dem Islam ausgelöst? Ein Schelm, wer böses denkt. Vielleicht sind wir nur Kollateralschaden?

    1. Lieber Roger,

      Du argumentierst nicht trennscharf und packst reflexiv die Holocaustkeule aus … letzteres ist eigentlich ein Unding bei einer sachlichen Diskussion zwischen zumindest guten Bekannten, zumal a) ich kein Täter, b) du kein Opfer bist und c) ein religiöser Ritus mit dem Genozid der Nazis genau gar nichts zu tun hat.

      Aber ich möchte darüber hinwegsehen und Dir dennoch ernsthaft antworten. Deutschland „verbietet“ dem Judentum keineswegs, „seinen Glauben auszuüben“. Die Kölner Richter haben sich lediglich darauf besonnen, dass wir in einem säkularen Staat leben, der Kirche und Staat trennt. Das gilt nicht nur für das Christentum, sondern für alle auf deutschem Staatsgebiet aktiven Glaubensgemeinschaften.
      Und vor diesem Hintergrund weisen sie darauf hin, dass ein Ritus des jüdischen und des muslimischen Kultus einem in Deutschland verbrieften (und für mich persönlich, wie im Originalpost gesagt, *nicht verhandelbaren*) Grundrecht, nämlich dem auf körperliche Unversehrtheit, widerspricht.

      Mal im Ernst – glaubst Du, der Glaube an euren Gott (der derselbe wie meiner ist, wenn ich mich recht entsinne, auch wenn ich AN Christus glaube und nicht WIE Christus) entscheidet sich am Fehlen eines Hautlappens? Wenn euer Sohn mit 14 entscheiden soll, nehmt ihr ihm das doch vorweg, wenn er dann schon beschnitten ist …?

      Und was wäre, wenn es um, sagen wir, das vordere Glied des kleinen Fingers ginge? Oder den Blinddarm? Die braucht eigentlich auch keiner so richtig, und religiöse Bräuche gehen seltsame Wege … läge das auch im Entscheidungsrecht der Eltern?

      Und apropos Angst: Ist die Säuglingsbeschneidung nicht vor allem Angst davor, dass ein Pubertierender oder gar Erwachsener bei gesundem Menschenverstand beim Fehlen einer medizinischen Indikation nur zu EINER Entscheidung kommen kann – und zwar nicht zur rabbinerkonformen?

      Bei mir grassiert gar nichts. Außer dem wachsenden Unverständnis.

  2. Ich packe gar keine Holocaust Keule aus. Ich habe doch geschrieben, dass wir deutschen Juden recht patriotisch sind und das Dritte Reich vergeben haben. Komisch fühlt es sich dennoch an. Ich werfe auch Dir nicht vor, Opfer der grassierenden Angst zu sein. Ich werfe dieses dem ungebildeten Teil des deutschen Volkes vor.

    Dass „unser“ Gott auch genau der Gleiche wie im Judentum und Islam ist, ist mir klar.

    Natürlich ist meine Erklärung (denn es ist keine Argumentation für die Richtigkeit, sondern eine Erklärung meiner persönlichen Gefühle) nicht trennscharf. Sie ist subjektiv, emotional und lebt ein wenig von der Hoffnung, dass mein Sohn sich entscheidet Jude zu werden.

    Ich weiß allerdings auch, dass gerade und eben in Israel eine große Front gegen die Beschneidung existiert. Wir werden jetzt und hier nicht zu einer Entscheidung kommen, aber ich beobachte das Für und Wider sehr interessiert.

  3. Es sollte heißen: „Dass “unser” Gott auch genau der Gleiche wie im Christentum und Islam ist, ist mir klar.“

  4. Um ehrlich zu sein, habe ich zu dem Thema immer noch keine rechte Meinung. Vielleicht, weil ich in doppelter Hinsicht (Frau, agnostisch, mit katholischen Wurzeln) nicht betroffen bin.

    Auf der einen Seite kann ich den Wunsch von Eltern, ihrem Sohn so etwas anzutun, nicht nachvollziehen. Aber ich kann auch nicht nachvollziehen, warum man einem Kind Wasser über den Kopf schüttet. Das ist in der Bedeutung gleich, nur in der Konsequenz ein Unterschied.

    Was mich in der Diskussion allerdings schon fast amüsiert, ist die soziologisch-psychologisch/ gesellschaftliche Komponente. Auf einmal gibt es (viele?!) Männer, die wegen der fehlenden Vorhaut in psychotherapeutischer Behandlung sind. Und es braucht einen Psychoanalytiker, der uns dann sagt, dass diese Männer darunter leiden, weil ihnen etwas was fehle.
    Ein Gedankenspiel: Kann sich jemand vorstellen, dass ein Mensch in psychotherapeutische Behandlung begibt, weil er/ sie sich durch den Akt der Taufe besudelt fühlt und exzessiven Selbstekel entwickelt?
    Das KÖNNTE so sein, und zwar in beiden Fällen! Es KÖNNTE aber auch die Meinung/Erklärung des Psychoanalytikers sein. Da sich solche Behauptungen der Überprüfbarkeit entziehen, sollten wir diese ebenfalls getrost außer Acht lassen, zumindest, wenn wir rational und wissenschaftlich fundiert argumentieren wollen.
    Nächste Frage: Was ist wahrscheinlicher? Dass ein muslimischer Junge in der Sammelumkleide gemobbt wird, weil er beschnitten ist oder dass er gemobbt wird, weil er nicht beschnitten ist? Ich kann das nicht beantworten. Und ich glaube, das kann zur Zeit niemand. Aber ich halte beides für möglich und bin sicher, wir könnten Männer finden, die letzteres erlebt haben.
    Zur Verdeutlichung: Ich will überhaupt nicht bestreiten, dass es Männer gibt, aufgrund ihrer Beschneidung einen Leidensdruck entwickeln. Aber ich bin sicher, dass dies für die große Mehrheit der Beschnittenen nicht zutrifft. Und eine Verallgemeinerung der Einzelfälle auf die Gesamtheit wäre unzulässig.

    Was bleibt?
    Aus medizinischer Sicht spricht alles gegen die Beschneidung
    Aus soziologisch-psychologischer Sicht steht eine Antwort aus. Meine These lautet, dass hier extrem wenig gegen eine Beschneidung spräche.
    Aus religiöser Sicht?
    Hier macht man denen, die nicht der jüdischen oder muslimischen Gemeinschaft angehören, gern den Vorwurf, dass wir die Bedeutung des Rituals nicht ermessen könnten. Das stimmt. Und in Ermangelung anderer Erfahrung setze ich es noch einmal mit dem mir bekannten Aufnahmeritual gleich: der Taufe.
    Wenn der Staat lenkend bei einer Religionsgemeinschaft eingreift, sollte er immer den Grundsatz der Gleichbehandlung im Auge behalten.
    Ein Kompromiss könnte für mich daher lauten: Schert alle Religionen über einen Kamm. Verbietet JEGLICHE religiösen Aufnahmerituale bis zur Religionsmündigkeit (14 Jahre). AUCH die Taufe (und was es sonst noch gibt). Schafft einen modernen Rahmen, in denen Kinder bis dahin ohne Nachteile Mitglieder ihrer jeweiligen religiösen Gemeinschaft sein können und lasst sie dann selbst entscheiden. ALLE.

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